Neue Ökonomische Politik in der Sowjetunion

Neue Ökonomische Politik in der Sowjetunion
Neue Ökonomische Politik in der Sowjetunion
 
Ein erneuter wirtschaftlicher Einbruch im Winter 1920/21, eine Welle von Bauernunruhen, hervorgerufen durch Unzufriedenheit über die Getreideeintreibung, Arbeiterdemonstrationen und der Aufstand der Kronstädter Matrosen Anfang 1921, die eine bessere Ernährung, aber auch freie Wahlen zu den Sowjets forderten, führten bei Lenin und anderen führenden Kommunisten zur Einsicht, dass gegen den Widerstand der Bevölkerung nicht an der bisherigen Politik festgehalten werden könne. Der X. Parteitag der Kommunisten entschied deshalb im März 1921, die Getreideablieferungspflicht der Bauern durch eine wesentlich niedrigere Naturalsteuer zu ersetzen und einen freien lokalen Handel zuzulassen. Damit begann eine Abkehr vom Gesellschaftsprogramm des »Kriegskommunismus«.
 
Die »Neue Ökonomische Politik« (NÖP) zielte darauf ab, in einer Mischform aus sich dynamisch entfaltenden Marktkräften und staatlicher Lenkung zunächst die Kaufkraft der Bauern zu stärken, damit deren Nachfrage die Produktion der Konsumgüterindustrie und diese wiederum die Produktionsmittelindustrie anregen würde. In der Tat konnten die unmittelbaren wirtschaftlichen Schwierigkeiten behoben und bis Mitte der Zwanzigerjahre der Stand der Vorkriegsproduktion wieder erreicht werden.
 
Allerdings verlief die Entwicklung nicht problemlos. Immer wieder kam es über das Verhältnis der Preise von Agrar- zu Industrieprodukten zu Konflikten, die Absatzprobleme für industrielle Waren mit sich brachten. Viele Bauern, die mit dem Angebot nicht zufrieden waren, hielten die von ihnen produzierten Überschüsse vom Markt zurück. Sie erhöhten ihren Eigenverbrauch oder spekulierten mit ihrem Getreide. Der linke Flügel der Kommunistischen Partei um Trotzki und Preobraschenski verlangte deshalb in der »Industrialisierungsdebatte« zwischen 1924 und 1928 ein schärferes Vorgehen gegen die ökonomisch kräftigen Bauern, die »Kulaken«, und eine gezielte vorrangige Förderung des Produktionsmittelsektors. Andere, wie der Finanzexperte Schanin, meinten, man müsse die Landwirtschaft und die Konsumgüterindustrie mehr als bisher bevorzugen, um die Lebensverhältnisse der Bevölkerung zu verbessern und die Nachfrage anzuregen. Eine mittlere Richtung um Bucharin strebte ein »dynamisches wirtschaftliches Gleichgewicht« an, damit sich die verschiedenen Bereiche der Wirtschaft aufeinander abgestimmt entwickeln könnten.
 
Doch als seit Ende 1927 deutlich wurde, dass die Getreidebeschaffung erneut stockte und die Strukturprobleme zwischen Stadt und Land nicht gelöst waren, schlug die Stimmung zugunsten eines radikaleren Vorgehens um. Nach einem Schaukelkurs zwischen gewaltsamen »außerordentlichen« Maßnahmen und einer Rückkehr zu Methoden der NÖP fiel 1929 in einer panikartigen Reaktion die Entscheidung, rascher als geplant zu industrialisieren, die Bauern in Kollektivwirtschaften unter staatlicher Leitung zusammenzufassen und die »Kulaken als Klasse zu liquidieren«.
 
Zu diesem Umschwung trug bei, dass seit dem Parteitag von 1921, parallel zur ökonomischen Lockerung, die politischen Zügel straffer angezogen worden waren. Die noch bestehenden nicht kommunistischen Parteien wurden verboten, zugleich die innerparteiliche Demokratie beschränkt. Dies erleichterte die Ausschaltung von Oppositions-»Fraktionen« - etwa um Trotzki oder Bucharin -, die sich nicht zuletzt im Zusammenhang mit der »Industrialisierungsdebatte« gebildet hatten. Dass zugleich in den Zwanzigerjahren die staatliche wie die Parteibürokratie, die »doppelte Hierarchie«, und die Arbeiterschaft eine tief greifende strukturelle Wandlung durchmachten, stärkte die Zentrale um den höchst machtbewusst handelnden Stalin weiter, der als Generalsekretär der Partei nach Lenins Tod 1924 seine Konkurrenten nach und nach ausgeschaltet hatte. Die Wirtschaftskrise konnte deshalb nicht von dezentraler Eigenverantwortlichkeit und Selbstständigkeit aufgefangen werden. Stattdessen ertönte der Ruf nach einem Eingreifen der Zentrale immer lauter. Viele begrüßten daher die Beschlüsse von 1929 und erhofften einen Ausweg aus der verfahrenen Situation oder sogar den entscheidenden Schritt zum Sozialismus. Doch die Folgen der »Flucht nach vorn« waren ein wirtschaftliches Fiasko und die Festigung eines neuen Systems, des Stalinismus, das Millionen Menschenleben forderte.

Universal-Lexikon. 2012.

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